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Experteninterview mit Frau Prof. Anita Schilcher von der Universität Regensburg

Frau Prof. Schilcher, Studien wie PISA und IGLU zeigen, dass die Lesekompetenz unserer Schülerinnen und Schülern noch verbessert werden kann. Was genau wird denn in diesen Vergleichsarbeiten überhaupt getestet? Was meint „Lesekompetenz“?

Den Begriff der „Lesekompetenz“ kann man durchaus unterschiedlich definieren. Während die Lesekompetenzmodelle aus PISA und IGLU die kognitiven Dimensionen der Lesekompetenz fokussieren, beziehen didaktische Modelle die Subjektebene und die soziale Dimension mit ein, also z.B. dass Schüler/innen individuelle Leseinteressen entwickeln oder dass sie z.B. Bibliotheken nutzen können oder mit Gleichaltrigen über Literatur diskutieren. Kognitiv orientierte Lesekompetenzmodelle, wie sie der PISA- und IGLU-Studie zugrunde liegen, beschreiben die unterschiedlichen kognitiven Anforderungen des Lesens. Auf dieser Grundlage werden dann Aufgaben auf verschiedenen Schwierigkeitsniveaus zu altersgemäßen Texten entwickelt. Einfache Aufgaben verlangen etwa, dass man Einzelinformationen im Text finden kann, komplexere Aufgaben, dass man mehrere Informationen, die ein Text enthält, miteinander in Beziehung setzen und daraus Schlussfolgerungen ziehen kann.

Was "geschieht" bei einer PISA-Studie?

In jedem teilnehmenden Land löst eine repräsentative Stichprobe von Schülerinnen und Schülern diese Aufgaben. Anschließend wird analysiert, wie viele Schülerinnen und Schüler des Landes die verschiedenen Niveaustufen erreichen. Der Durchschnittwert aller Schülerinnen und Schüler liegt bei ca. 500 Punkten. Man kann nun die Schülerleistungen der einzelnen Länder zueinander in Beziehung setzen und sehen, welche Länder besonders erfolgreich darin sind, ihre Schüler/innen auf ein hohes Leseniveau zu bringen. Darüber hinaus lassen sich durch den wiederkehrenden Turnus der Studie auch Aussagen darüber treffen, wie sich die Schülerleistungen eines Landes über die Jahre hinweg entwickeln. Während es bei PISA in Deutschland eine langsame, aber stetige Verbesserung gibt, stagnieren die Leseleistungen in der Grundschule. Das wäre an und für sich noch keine so schlechte Botschaft, es lässt sich jedoch zeigen, dass sich bei der IGLU-Studie viele andere Länder verbessert haben und an Deutschland „vorbeigezogen“ sind.

An Schulen gibt es zahlreiche motivierende Aktionen rund ums Lesen, wie Vorlesetage, Lesenächte, Ausstellungen. Warum ist diese Leseanimation aber nicht ausreichend für die Leseförderung? 

Aktionen wie die Lesenacht bleiben den Schülerinnen und Schülern oft nachhaltig in Erinnerung, weil sie etwas Besonderes sind. Auch wenn ein berühmter Kinder- oder Jugendbuchautor eine Lesung veranstaltet, sind viele Schüler/-innen beeindruckt. Außerdem liefern solche Aktionen schöne Fotos für die Homepage der Schule. Sie führen jedoch weder automatisch zu einer Steigerung des Leseinteresses noch zu einer verbesserten Lesekompetenz. Im Gegenteil: Schwache Leserinnen und Leser bekommen so eine ihnen fremde „Kultur“, also den kulturellen Habitus einer „gebildeten Schicht“, vorgeführt.

Um die Lesekompetenz zu steigern, gibt es bislang nur zwei empirisch nachweislich wirksame Maßnahmen: Leseflüssigkeitstrainings und Lesestrategietrainings. Beide Maßnahmen brauchen eine systematische und längerfristige Implementierung in den Unterricht, um Wirkung entfalten zu können. Das bedeutet, dass gerade am Anfang eines Trainings sehr regelmäßig geübt werden muss. Man kann sich das wie bei einem Lauftraining vorstellen. Wenn man nur einmal die Woche trainiert, dann hat man kaum Effekte. Auch beim Lesen gilt: Lieber kürzere Einheiten mehrmals wöchentlich über mehrere Wochen hinweg. Dabei können sowohl Leseflüssigkeitstrainings als auch Lesestrategietrainings in allen Fächern durchgeführt werden. Das erfordert Teamarbeit zwischen einzelnen Kolleginnen und Kollegen, aber es geht. Und es zeigt den Schülerinnen und Schülern, dass Lesen in allen Fächern eine zentrale Rolle spielt.

Eine Möglichkeit, die Leseflüssigkeit zu trainieren, sind die sogenannten Lautlesetandems. Wann und wie können diese sinnvollerweise eingesetzt werden? Geschieht dies nur im Deutschunterricht der Grundschule?

Lautlesetandems sind nur eine von mehreren Möglichkeiten, die Leseflüssigkeit zu fördern. Ebenso wirksam sind Lautleseverfahren wie das laute Mitlesen zu Hörmedien. Verfahren wie diese sind sowohl im Grundschulunterricht erprobt worden als auch in der Unterstufe weiterführender Schulen. Sie sind dann sinnvoll, wenn sich bei der Diagnostik herausstellt, dass die Lesegeschwindigkeit der Schüler/-innen noch nicht die „magische“ 100-Wörter-Grenze pro Minute überschritten hat. Denn erst dann sollte mit einem Lesestrategietraining begonnen werden.

Wenn Schülerinnen und Schüler flüssig lesen, bedeutet das nicht automatisch, dass sie kompetente Leserinnen und Leser sind und sinnerfassend lesen können. Wie kann der Unterricht in allen Fächern dazu beitragen, die Lesekompetenz der Kinder und Jugendlichen zu fördern?

Eine ausreichende Leseflüssigkeit ist Voraussetzung, um das Leseverstehen weiterentwickeln zu können. Zur Förderung des Verstehens braucht es Lesestrategien. Ideal wäre es, wenn sich Schulen auf ein Set von Lesestrategien einigen, das sie Jahr für Jahr ausbauen. Also zum Beispiel in der 5. Klasse „Vorwissen zur Überschrift aktivieren“, „Texte überfliegen“, „Schlüsselwörter unterstreichen“ und „einfache Visualisierungen erstellen“. In der 6. Jahrgangsstufe kommen dann z. B. Strategien wie „Überschriften für Absätze finden“ hinzu, ab der 7. Jahrgangsstufe arbeitet man mit Zusammenfassungen. Je mehr Lehrkräfte verschiedener Fächer in einer Klasse die gleichen Strategien verlangen und vermitteln, desto nachhaltiger das Ergebnis.

Zum Üben von Lesestrategien und für die Rückmeldung von Lernfortschritten werden allerdings passende Aufgaben benötigt. Die Lehrkräfte sollten überprüfen, ob Aufgaben, die sie stellen, tatsächlich verschiedene Niveaus von Lesekompetenz adressieren und ob sie über eine gewisse Zeit hinweg immer ähnlich schwere Aufgaben stellen. Denn nur in diesem Fall können Schüler/-innen ihre Fortschritte auf ihre eigene Anstrengung zurückführen. Viele Aufgaben über- oder unterfordern die Schüler/-innen. Bei der Konstruktion von Aufgaben kann man sich z. B. an den Niveaustufen von IGLU oder PISA orientieren.

Auch die Textauswahl spielt eine wichtige Rolle. Die Texte sollen altersangemessen sein, d.h. weder unter- noch überfordern. Das richtige Niveau zu finden, ist dabei gar nicht so einfach. Zwei meiner Mitarbeiter haben den Textschwierigkeitsmesser RATTE entwickelt, den man sich auf unserer Homepage kostenfrei herunterladen kann. Das Ergebnis bietet einen ersten Anhaltspunkt dafür, wie schwer ein Text ist.

Was raten Sie der Mathematiklehrkraft, die sich nicht so intensiv wie Sie mit der Materie „Lesen“ beschäftigen kann? Gibt es etwas, das sie sehr leicht umsetzen kann, um einen Beitrag zur Leseförderung zu leisten? Wie soll sie beginnen?

Wie wir z.B. aus der PISA-Studie wissen, scheitern Kinder im Mathematikunterricht häufig am Lesen und nicht an den mathematischen Problemen. Der Einsatz von Lesestrategien bei Sachaufgaben ist deshalb sinnvoll, etwa damit die Schülerinnen und Schüler die wichtigen Informationen finden und zueinander in Beziehung setzen können. Manchmal lässt sich ein allgemeiner Strategiefächer auch an die typischen Aufgaben eines Faches anpassen. So kann man z.B. bei einer Sachaufgabe statt der üblichen Schlüsselwörter mathematische Signalwörter wie „hinzukommen“ oder „abziehen“ markieren.  Sachaufgaben im Mathematikunterricht sind darüber hinaus manchmal sprachlich sehr komplex. Wenn man aus einem langen Satz zwei macht, ist vielen Schülerinnen und Schüler schon geholfen. Schließlich sollen die Schülerinnen und Schüler im Mathematikunterricht mathematische Probleme lösen und nicht vorrangig mit Leseproblemen beschäftigt sein. Eine weitere Möglichkeit ist, dass man den Schülerinnen und Schülern zeigt, wie man komplexe Sätze zerlegt und damit verständlicher macht. Auch das ist übrigens eine Lesestrategie.

Ziel ist, dass Schülerinnen und Schüler ihr Lernverhalten, ihre Lernprozesse reflektieren und auch selbst regulieren können. Wie können Trainings der Selbstregulation denn ganz konkret aussehen?  

Selbstregulation beim Lernen ist deshalb wichtig, weil es hilft, eigene Stärken und Schwächen zu erkennen und daraus Konsequenzen für nachfolgende Lernprozesse zu ziehen. Wichtige Schritte des Selbstregulationsprozesses sind die Einschätzung der eigenen Leistung in Bezug auf eine bestimmte Aufgabe, das Setzen von konkreten, herausfordernden Zielen, die Auswahl geeigneter Strategien für die Bewältigung der Aufgabe und das Überwachen des Lernfortschritts. Selbstregulationstrainings arbeiten in der Regel zyklisch: Wenn ein bestimmtes Ziel erreicht ist, dann setzt man sich ein neues und arbeitet auch an diesem mit geeigneten Strategien. Beim Lesen kann man auf diese Weise eine Strategie nach der anderen systematisch einführen und über einen längeren Zeitraum hinweg mit kontinuierlich ansteigenden Textschwierigkeiten arbeiten. Zahlreiche Studien konnten zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die selbstreguliert lernen, weit bessere Lernfortschritte erzielen als andere.

Liebe Frau Prof. Schilcher, ganz herzlichen Dank für das Interview.

(Das Interview wurde im Sommer 2018 geführt. Die Frage stammen von Frau Christina Neugebauer.)

Frau Prof. Dr. Anita Schilcher leitet den Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Regensburg.

RATTE: Regensburger Analysetool für Texte

Das Regensburger Analysetool für Texte hilft bei der Einschätzung des Schwierigkeitsgrads von Texten und erleichtert damit die Auswahl passender Texte für den Unterricht.