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Nora Krug: Heimat. Ein deutsches Familienalbum

Besprechung

Die Umschlaggestaltung sagt viel über dieses außergewöhnliche Buch aus: In Anspielung an Caspar David Friedrichs berühmtes Bild „Wanderer über dem Nebelmeer“ sieht man die Rückansicht einer Frau, die auf einem Felsen steht und auf ein unter ihr liegendes Dorf blickt. Bewusst wird hier ein allseits bekanntes romantisches Motiv aufgerufen, um es sofort wieder zu zerstören, denn ungefähr auf Augenhöhe der Betrachterin stürzt ein offensichtlich abgeschossenes Kampfflugzeug ab und damit direkt auf die noch friedlich daliegende und kein Unheil vermutende menschliche Ansiedlung. Es sind neben der erhöhten Position der Betrachterin auch die aquarellartigen Farben, die sie von der unter ihr liegenden Landschaft unterscheidet; sie ist nicht direkt Teil dieser Handlung. Tatsächlich zeigt sich auf den ersten Seiten, dass es die Geschichte der Autorin selbst ist, die hier erzählt wird und auf die sie von mehr oder weniger erhabener Position aus blickt: Die 1977 in Karlsruhe geborene Nora Krug lebt seit über 17 Jahren in New York und kommt an den Punkt in ihrem Leben, an dem sie sich fragt, was Heimat und Deutschsein für sie bedeutet. Sie veröffentlicht einen „Katalog deutscher Dinge“ und ehrt damit typisch deutsche Gegenstände, die der Auswanderin fehlen, wie z.B. das Hansaplast-Pflaster, das Schwarzbrot, der Leitz-Ordner oder die Wärmeflasche. „Ich bin neidisch darauf, dass ich mich weder mit meiner eigenen noch mit einer anderen Kultur wirklich identifizieren kann, so wie es für jeden Amerikaner ganz selbstverständlich zu sein scheint.“Das Ergebnis dieser Reflexion kann sich sehen lassen: Es ist das vorliegende Buch, das wie eine riesige Collage aus Bildern, Originaldokumenten, handschriftlichen Zeichnungen, Briefen, Comicstrips und Fotografien daherkommt. Nora Krug macht sich auf die Spurensuche nach ihrer Familie, die sie in den Umschlaginnenseiten als hilfreiche Stammbäume illustriert. Als Leser versteht man sofort, warum Krug nicht den Untertitel „Mein Familienalbum“, sondern „Ein deutsches Familienalbum“ gewählt hat: Jeder Leser könnte über seine eigene Familie ein solches Album anlegen und wird durch die Lektüre zu dieser Beschäftigung geradezu aufgefordert. Wo komme ich her? „Wie kann man begreifen, wer man ist, wenn man nicht versteht, woher man kommt?“ Sofern es sich um eine deutsche Familie handelt, kommt man ebenso wie Krug früher oder später auf das Verhalten der Familienmitglieder während der Zeit des Dritten Reichs. Die Autorin sieht sich als Vertreterin einer Generation, die so erzogen wurde, dass es ihnen schwerfällt, Deutsche zu sein: Die Schuld der Väter sieht sie „fest mit unseren Genen verknüpft“. In dem aufwändig gestalteten Buch wird man schnell Komplize der Autorin auf der Suche nach ihren Wurzeln und den alles entscheidenden Fragen: War mein Opa ein Nazi? Hat er sich an den Gräueltaten beteiligt? Wussten meine Großeltern von der massenhaften Vernichtung jüdischen Lebens in den Konzentrationslagern? Haben sie etwas dagegen unternommen? Wie haben meine Eltern diese Fragen beantwortet? Als Leser fühlt man mit Nora Krug, wenn sie sich die Frage stellt, ob ihr Opa wirklich nichts mitbekommen hat, als am 9.11.1938 auf der Straßenseite gegenüber seiner Fahrschule die Synagoge angezündet wurde. Wie war das mit den eigenen Vorfahren?

Didaktische Hinweise

Es ist dieser Reflexionsprozess, der dieses Buch für Schülerinnen und Schüler so wertvoll macht. Keine Generation kann sich vor den unbequemen Fragen an die eigene Geschichte drücken. Jeder muss früher oder später herausfinden, woher er kommt. Gerade in Zeiten neu aufflammenden Nationalismus und Populismus ist es sinnvoll, dass junge Menschen Einblicke z.B. in die Feldpost von Onkel Edwin erhalten, die einen „allmählich menschlichen Zerfall“ während der Kriegsjahre beschreiben. In Zeiten, in denen ein deutscher Spitzenpolitiker „Hitler und die Nazis [...] nur [als] ein[en] Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte" verharmlost, ist es heilsam, wenn die „große“ Geschichte auf einen kleinen Ort wie Kühlsheim in Baden-Württemberg heruntergebrochen dargestellt wird. Kühlsheim war überall. Dazu gehört auch das Zeugnis der katastrophalen Vergangenheitsbewältigung in der Nachkriegszeit. Nora Krug kommt zu dem Schluss, dass Heimat nur in der Erinnerung wiedergefunden werden kann: „Heimat ist etwas, das erst zu existieren beginnt, wenn man es verloren hat.“

Lehrplanbezüge:

Berufsoberschule

  • GSk12 Lernbereich 5: Die Auseinandersetzung mit historischen Lebenswirklichkeiten: Der Umgang mit Diktaturen in Deutschland

Fachoberschule

  • G11 Lernbereich 5: Die Auseinandersetzung mit historischen Lebenswirklichkeiten: Der Umgang mit Diktaturen in Deutschland

Gymnasium

  • G9 Lernbereich 2: Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust
  • G11 2.1: Scheitern der Weimarer Republik, NS-Diktatur und Völkermord

Realschule

  • G9 Lernbereich 4: Nationalsozialismus – Ideologie und Politik bis 1939
  • G9 Lernbereich 5: Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust – Schuld, Widerstand und Verantwortung
  • G10 Lernbereich 7: Geschichtskultur – wie wir mit Geschichte umgehenÜbergreifende Bildungs- und Erziehungsziele: Soziales Lernen, Werteerziehung, Sprachliche Bildung, Familienerziehung, Interkulturelle Bildung, Kulturelle Bildung, Medienbildung, Politische Bildung

Gattung

  • Comics, Comic-Romane, Graphic Novels
  • Sachbücher

Sachbuchkategorie

  • Biografien, Autobiografien, Porträts

Eignung

themenspezifisch geeignet

Altersempfehlung

Jgst. 9 bis 12

Fächer

  • Deutsch
  • Geschichte
  • Sozialkunde/Politik und Gesellschaft

FÜZ

  • Politische Bildung
  • Werteerziehung
  • Kulturelle Bildung
  • Sprachliche Bildung

Erscheinungsjahr

2018

ISBN

9783328600053

Umfang

288 Seiten

Medien

  • Buch