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Martin Kordic: Jahre mit Martha

Besprechung

Ein ungewöhnlicher Liebes- und Gesellschafts- und Bildungsroman

Martin Kordic arbeitet seit vielen Jahren als Lektor und hat nach seinem Debüt im Jahre 2014 „Wie ich mir das Glück vorstelle“ nun seinen zweiten Roman geschrieben.

Darin erzählt Zeljko, der sich anfangs „Jimmy“ nennen lässt, um dadurch seine Herkunft als Sohn eines Bauarbeiters und einer Putzfrau aus Bosnien-Herzegowina zu verschleiern, von seiner jahrelangen Beziehung zu Martha Gruber, einer Professorin. Als er sie kennenlernt, ist er fünfzehn und sie wohl über dreißig. Aber das ist, obwohl der Roman danach benannt ist, nicht die Hauptsache. Denn viel wichtiger ist der Bildungsweg, den Zeljko schon als Kind nehmen will. Er möchte so viel wissen und lesen wie nur möglich, um der intellektuellen und finanziellen Enge seiner Herkunft zu entfliehen. Deshalb sammelt er Zeitungen und Zeitschriften aus Altpapiercontainern und legt Listen der Wörter an, die er nicht versteht. Aus diesem Grund ist er auch so begeistert von seinem Ferienjob bei Frau Gruber, den er über seine Mutter, die bei der Professorin putzt, erhalten hat, denn Martha verfügt über eine riesengroße Bibliothek, aus der sich Zeljko Bücher ausleihen darf. Was Zeljko an Martha Gruber fasziniert, ist neben der sexuell gefärbten Anziehung, die er verspürt, ihr Selbstbewusstsein, ihre selbstverständliche Sicherheit, mit der sie sich in der Welt bewegt. Das ist der große Unterschied zu seiner Familie und zu seinen Verwandten, die in Deutschland möglichst unauffällig und unsichtbar ihrer körperlich harten und gesundheitsschädlichen Arbeit nachgehen, immer in der Angst aufzufallen und womöglich den Job oder die Wohnung zu verlieren.

Es sind die wie nebenbei erzählten Geschichten von alltäglichem Rassismus, von Vorurteilen und von sozialen Unterschieden, die neben der wunderbar klaren und plastischen Sprache diesen Roman zu etwas ganz Besonderem machen. So erwähnt der Ich-Erzähler, dass ihm der Berufsberater, den er auf Geheiß seiner Realschule aufsuchen muss, empfiehlt, Gärtner zu werden, obwohl Zeljko nur Einsen hat und eine Realschullehrerin ihm geraten hat, auf das Gymnasium zu gehen. Seine Wut über die Ungerechtigkeit der Gesellschaft bricht sich zum ersten Mal Bahn und er wirft den Computer des Berufsberaters vom Tisch und „hatte genau das getan, was von Zeljko Drazenko Kovacevic erwartet wurde. Ich hatte die Vorurteile bestätigt, die dieser Mann gegen mich hegte.“

Aber Zeljko gelingt, was er sich vorgenommen hat, er besteht die Abiturprüfung mit ausgezeichneten Ergebnissen und erhält einen Studienplatz in München. Allerdings sagt sein Bruder Kruno, der in ihrer Heimatstadt Ludwigshafen eine Ausbildung zum Industriemechaniker macht, über Zeljkos Wunsch zu studieren: „Das ist nichts für Kinder wie uns.“ Seine Familie hat bereits die Sicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf sich selbst übernommen.

Letztlich endet die Bildungsbiographie für Zeljko enttäuschend, zwar beginnen Martha und er nun, da er erwachsen ist, eine Beziehung, in der auch Sexualität eine Rolle spielt, aber Zeljko gerät in München an einen zwar charismatischen, aber letztlich skrupellosen Philosophieprofessor, der ihn intellektuell und sexuell ausbeutet und vor der Abschlussprüfung im Stich lässt, sodass Zeljko zwar das Examen besteht, anschließend jedoch nicht mehr weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll. Enttäuscht und ernüchtert kehrt er nach Ludwigshafen zurück, schlägt sich mit verschiedenen Jobs durch und wird schließlich, Ironie der Geschichte, Gärtner. Für seine Familie jedoch gibt es eine Art Happy End. Seinem Bruder Kruno gelingt der soziale Aufstieg, er wird Industriekaufmann, studiert und promoviert, nimmt den deutschen Namen seiner Frau an und kauft für sich und die gesamte Familie ein Reihenhaus. Zeljkos Vater rasiert sich nach Beginn des Prozesses gegen die Mörder des NSU sogar den Schnurrbart ab, um noch weniger aufzufallen, und zieht im Vorgarten eine Deutschlandfahne hoch.

Didaktische Hinweise

Für die Oberstufe ist dieser Roman sehr zu empfehlen, denn er spiegelt die Gesellschaft in diesem Land auf ganz besondere Weise wider, und viele Schülerinnen und Schüler werden in ihm ihrer eigenen Situation und der Geschichte ihrer Eltern begegnen. Eine Vielzahl von Themen lassen sich mit ihm besprechen, die Situation der Kinder und Enkel der „Gastarbeiter“, Folgen und Chancen von Migration, der alltägliche Rassismus, die Auseinandersetzung mit Vorurteilen und die soziale Deklassierung bestimmter Milieus. Die luzide und gleichzeitig poetische Sprache macht den Zugang für die Schülerinnen und Schüler leicht und der Ich-Erzähler ist eine sympathische Identifikationsfigur. Es empfiehlt sich, auch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien von 1991 bis 2001 zu besprechen, denn auch diese bilden ein wichtiges Grundthema des Romans.

Der S. Fischer Verlag stellt auf seiner Website eine Leseprobe und eine Kurzbiographie des Autors bereit. Darüber hinaus ist der inzwischen zum Spiegel-Bestseller avancierte Roman in allen größeren Tageszeitungen besprochen worden. Besonders zu empfehlen ist ein Gespräch mit Martin Kordic im Literaturhaus Berlin, in dessen Verlauf er auch aus seinem Werk liest.

Darüber hinaus eignet sich der Roman auch zur Vermittlung der Bildungsziele für nachhaltige Entwicklung (BNE), und zwar vor allem die Ziele Keine Armut (1), Hochwertige Bildung (4), Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum (8) und Weniger Ungleichheit (10).

Gattung

  • Romane

Eignung

sehr gut als Klassenlektüre geeignet und zum Vorlesen

Altersempfehlung

Jgst. 10 bis 13

Fächer

  • Deutsch

FÜZ

  • Familien- und Sexualerziehung
  • Interkulturelle Bildung
  • Politische Bildung
  • Soziales Lernen
  • Werteerziehung
  • Bildung für Nachhaltige Entwicklung (Umweltbildung, Globales Lernen)

Erscheinungsjahr

2022

ISBN

9783103971637

Umfang

288 Seiten

Medien

  • Buch
  • E-Book
  • Hörbuch