Donatella Di Pietrantonio: Die zerbrechliche Zeit
Besprechung
Im Mittelpunkt des Romans von Donatella Di Pietrantonio steht vor allem die schwierige Mutter-Tochter Beziehung von Lucia, der mittelalten Ich-Erzählerin, und ihrer Tochter Amanda. Diese verlässt die ländliche Gegend der Abruzzen, um in Mailand ihr Studium aufzunehmen. Mit Beginn der Corona-Pandemie kehrt sie jedoch nach Hause zu ihrer Mutter zurück, bleibt aber völlig in sich gekehrt und verschlossen. Ihrer Mutter gewährt sie brüsk keinen Zugang zu ihrer Welt. Hilflos stellt sie fest, dass Mailand ihr eine „erloschene Tochter” zurückgegeben hat. Lucia macht sich schwere Vorwürfe, dass sie ihre Tochter in Mailand im Stich gelassen hatte, als diese sie nach einem Überfall auf sie gebraucht hätte. Im Verlauf der raffinierten Erzählung wird immer deutlicher, dass Lucia mit Amanda erneut ein eigenes Versagen erlebt: In Rückblenden wird ein einschneidendes Erlebnis aus ihrer Jugendzeit langsam rekonstruiert. Damals war sie mit Doralice befreundet, deren Eltern einen Campingplatz in einem Waldstück von Amandas Vater betrieben. In einer Nacht machte sich Doralice mit zwei abenteuerlustigen Touristinnen auf einen nächtlichen Spaziergang, bei dem eine vergewaltigt und beide erschossen wurden; Doralice entging dabei nur knapp dem Tod. Auch nach diesem schrecklichen Ereignis fand sie keinen Weg und keine Worte, um zu ihrer Freundin Kontakt aufzunehmen. Die Vorwürfe, die sich Lucia machte, an diesem Tag bewusst mit anderen Freundinnen ans Meer gefahren zu sein, ohne Doralice zu fragen, ob sie mitwollte, nagen schwer an ihr. Während des jahrelangen Gerichtsprozesses ergeht es Lucia, wie es später Amanda geht: Sie spricht mit niemanden über ihre Sorgen, unterbricht ihre Studien, weil sie sich nicht mehr konzentrieren kann und hat das Gefühl, dass ihr alles entgleitet. Schlussendlich versteht Lucia, dass Amanda ihren eigenen Weg gehen muss, wenngleich dieser nicht der ist, den sie eingeschlagen hat. Die Mutter muss lernen zu akzeptieren, dass sie nun nichts mehr für ihre Tochter entscheiden kann. Erbstreitigkeiten mit dem Vater führen schließlich dazu, dass Amanda wieder einen Lebenssinn findet und mit ihrer Mutter gemeinsam eine Entscheidung über das geerbte Waldstück trifft, an dem damals der Campingplatz stand und das Gewaltverbrechen geschah. Auch Doralice bereitet schließlich durch einen Brief an Lucia den nagenden Vorwürfen ein Ende, indem sie alle Fragen beantwortet, die ihr nie von ihrer Freundin direkt gestellt wurden.
Didaktische Hinweise
Dieser Roman, der mit dem renommierten italienischen Buchpreis, dem premio strega 2024, ausgezeichnet wurde, eignet sich hervorragend dazu, um die Erzählkunst von Donatella Di Pietrantonio zu analysieren und kritisch zu bewerten. Beispielhaft genannt sei hier die kunstvolle Verzahnung der verschiedenen Zeitebenen, das langsame Rekonstruieren der Ereignisse, die Verknüpfung der unterschiedlichen Handlungsfäden und der besondere Sprachduktus. Anhand der in den Tageszeitungen erschienenen Rezensionen könnte man mit Schülerinnen und Schülern über Literaturkritik sprechen und zu einer eigenen Bewertung der Lektüre kommen. Thematisch werden Inhalte verhandelt, die überzeitlich sind:
- das schwierige Verhältnis von (patriarchalen) Vätern und Kindern
- die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern; vor allem die Ablösung von ihnen
- der Unterschied von Stadt- und Landleben
- unterschiedliche Lebensentwürfe und deren Bewertung durch verschiedene Generationen
- der Umgang mit bzw. die Bewältigung von eigenen Traumata
Gattung
- Romane
Eignung
als Klassenlektüre geeignetAltersempfehlung
Jgst. 11 bis 13Fächer
- Deutsch
- Italienisch
FÜZ
- Kulturelle Bildung
- Sprachliche Bildung
Erscheinungsjahr
2024ISBN
9783956146213Umfang
234 SeitenMedien
- Buch
- E-Book