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Konrad Löw: Deutsche Schuld 1933 - 1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen

Besprechung

Klaus von Dohnanyi (*1928) konstatiert in seinem Vorwort dem vorliegenden „Bericht“, dass niemand ihn als ein Plädoyer für den Freispruch der Deutschen von ihrer Verantwortung für die Naziverbrechen verstehen darf“ und bescheinigt dem Autor, dass er sich in seiner Aufklärungsarbeit der Wahrheit verpflichtet fühle und jenen Widerständigen, Barmherzigen und Mutigen, den „Stillen Helden“ (Gedenkstätte, Berlin, 2008) in den Nazi-Jahren in Deutschland, deren Zivilcourage wir nicht aus „mißverstandener politischer Korrektheit“ verdrängen dürfen. Alfred Grosser (*1925) bewertet im Nachwort die Neuerscheinung als ein "gutes, mutiges, nützliches Buch”, das “ohne Zorn, aber mit Bewegung geschrieben” worden sei.

Der Autor, Prof. Dr. Konrad Löw (*1931), lässt in zwanzig Kapiteln Hunderte von gelegentlich ignorierten Zeitzeugen mit dem Anspruch zu Wort kommen, seinen Lesern Quellen des historischen Wissens zugänglich zu machen, die vom „Willen zum Zeugnis“ geleitet waren, u. a. Dokumente von Jakob Littner (2002), Margareta Glas-Larsson (1981), Margot Kleinberger (2009), Albert Herzfeld (1982), Hélène Berr (2009), Victor Klemperer(1918/45) oder Ruth Andreas-Friedrich (1983).Prof. Dr. Konrad Löw, „aufrichtig bestrebt, der historischen Wirklichkeit und einer fortschrittlichen Ethik gerecht zu werden“, versteht die Neuerscheinung als „das wichtigste Buch, das ich je geschrieben habe.“ Im Hauptteil bekunden jüdische Zeitzeugen (S. 37-182), wie der Antisemitismus vor Hitler unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise 1929 neuen Nährboden fand und sich – ausweislich der Statistik – gegen bestimmte Berufsgruppen richtete: unter den jüdischen Mitbürgern gab es 1933 anteilig 18,9 % Juristen, 19,4 % Ärzte, 5 % Journalisten, 8,2 % Lehrer und Hochschullehrer. Löw dokumentiert den Boykott jüdischer Geschäfte, Arztpraxen und Rechtsanwaltsbüros (u. a. Plakat als Quelle, S. 66), begleitet von einpeitschenden NS-Propaganda-Artikeln, der Reaktion unerwarteter „Protestkunden“, aber auch von Akten grausamer Selbsttäuschung (Werner Cahnman, 1979). Der Autor setzt die Beschreibung der Reihe antisemitischer Maßnahmen fort mit Belegen zu den Stichworten „Dachau“ und „Nürnberg“, um anschaulich zu dokumentieren, wie jüdische Bürger die Entwicklung des NS-Unrechtssystems vor 1939 zu spüren bekamen. Akribisch wird die Wahrnehmung der Entwicklung dokumentiert: Individuelle Zeugnisse definieren die Existenz eines „anderen Deutschlands“ in widerständigem, auch widersprüchlichem Verhalten. Die Perspektive wird erweitert durch viele „Deutschlandberichte der Sopade“ (1934/40), Reiseberichte von ausländischen Diplomaten, begrenzt „in fairness to the German people“, NSDAP- und Gestapoberichte (u. a. aus Bayern) und deren Interpretation der Haltung der deutschen Bevölkerung. Die Säuberungen des öffentlichen Dienstes von „Zehntausenden teils versteckter, teils lethargischer Gegner“ (1934) sind ebenso Gegenstand der Darstellung wie die Hintergründe für die Führer-Weisung, Schillers Dramen „Wilhelm Tell“ nicht mehr aufzuführen und als Schullektüre zu verbieten (1941). Abschließend setzt sich Löw als Jurist sehr differenziert mit den Schlüsselbegriffen (individuelle) Schuld und (kollektive) Verantwortung auseinander, um Shoa/Holocaust als Verbrechenstatbestände im Lichte der Verfassungsgrundsätze des GG, des Völkerrechts und der Menschenrechte (UN-Charta 1945; Europäische Menschenrechtskonvention 1950; Statut des Interantionalen strafgerichtshofs 1998; EU-Grundrechtscharta 2000) zu beleuchten. Sein Fazit, gestützt vom Juristen und Ressortleiter der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, lautet: „Nach deutschem wie internationalem Recht gibt es keine Kollektivschuld. Zunächst wird die Schuldlosigkeit des Beschuldigten vermutet. (...) Die Unschuldsvermutung gehört zu den Grundsätzen des Rechtsstaats – sie wird aber immer öfter verletzt“ (SZ vom 17.04.2009). Der Autor versäumt nicht, auch jene Stimmen zu erwähnen, die im Gefolge Theodore N. Kaufmans („Germany must perish“, 1941) „alle Deutschen, die Deutschen, zahllose Deutsche und Christen zu amoralischen, zumindest moralisch defekten Helfern Hitlers abstempeln. Kritisch sieht Löw als Jurist und Politologe dabei auch jene pauschalen Schuldbekenntnisse u. a. der Deutschen Bischofskonferenz (Fulda, 23. 08.1945) oder der EKD (Stuttgart, 19.09.1945) unter dem unmittelbaren Eindruck des Zusammenbruchs des NS-Regimes. Er geht so weit, festzustellen, dass hinsichtlich der Bedienung des Topos „Kollektivschuld“ offenbar keiner ist, den seine eigene Vita dafür qualifiziert. Statt Vertretern des „anderen Deutschlands“ (vgl. S. 185 ff.) „bilden Belastete das Tribunal, dem sie sich selbst stellen müssten“. In diesem Zusammenhang wird auch ein SPD-Dokument aus der Nachkriegszeit mit der Überschrift „Kollektivschuld schützte Schuldige“ (S. 383) herangezogen. Der französische Politologe und Deutschlandkenner Alfred Grosser lehnt in seinem Nachwort mit dem Autor den Begriff der Kollektivschuld ab, konstatiert jedoch eine „kollektive Haftung“: Willy Brandts Kniefall vor dem Warschauer Ghetto-Denkmal 1970 ist für ihn der Beleg dafür, dass ein Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland „die Last der Judenvernichtung, die Haftung dafür, auf seine Schultern genommen hat“. Die aktuelle Publikation von Prof. Dr. Konrad Löw verfügt über einen differenzierten wissenschaftlichen Apparat: der Literaturteil gliedert sich in Aufzeichnungen jüdischer Zeitzeugen einschließlich in „Mischehe“ lebender Nichtjuden (Teil 1, S. 411-425, 354 Nrn.) und Aufzeichnungen nicht jüdischer Zeitgenossen (Teil 2, S. 426-437). Nicht weniger als 1394 Fußnoten dokumentieren das stupende Sachwissen des Autors. Das umfängliche Personen- und Ortsregister erleichtert die Arbeit mit seinem Werk.

Didaktische Hinweise

Die Arbeit stellt eine gut recherchierte, en détail belegte Neuerscheinung dar, die für die Vorbereitung des Unterrichts in den Fächern der historisch-politischen Bildung und die selbstständige Recherche für Referate und W-Seminare beste Dienste leisten kann. Zur Anschaffung für Schul- und Fachbibliotheken empfohlen!

Gattung

  • Sachbücher

Sachbuchkategorie

  • Politik, Gesellschaft
  • Geschichte, Archäologie

Eignung

für die Schulbibliothek empfohlen

Altersempfehlung

Jgst. 11 bis 13

Fächer

  • Geschichte
  • Sozialkunde/Politik und Gesellschaft

Erscheinungsjahr

2010

ISBN

9783789283284

Umfang

464 Seiten

Medien

  • Buch