mobile Navigation Icon

Jean-Philippe Toussaint: Die Wahrheit über Marie

Besprechung

Es gibt eine genial mitreißend erzählte Szene im vom Verlagschef Joachim Unseld selbst übersetzten Roman: Ein Vollbluthengst wird wegen einer drohenden Doping-Affäre von Japan nach Frankreich überführt. Die Formalitäten ziehen sich hin, die Zeit wird knapp, es regnet in Strömen und das nervöse Pferd nutzt die Schwäche der kurzfristig engagierten fremden Helfer und entflieht beim Verladen. Das über den nächtlichen, von Scheinwerfern und Anflugbefeuerungen gespenstisch erleuchteten Flugplatz von Narita stürmende, wütende und zugleich angsterfüllte Tier legt den gesamten internationalen Flugbetrieb lahm, bis es nach langer Jagd mit mehreren Fahrzeugen eingekreist und gefangen wird. Man muss kein Pferdeliebhaber sein, um das Pathos des edlen, kraftvollen, in helle Panik geratenen Tieres zu verstehen. Man macht sich allerdings Gedanken, wofür diese Szene steht in einem Buch, das von Marie handelt, die den Erzähler am Schluss von „Fliehen“ (FVA 2007) verlassen hat. Sie sei eine Art Reinkarnation von Sonia Riekel, schreibt ein französischer Kritiker, reist in der Welt herum mit riesigen Schrankkoffern voller Meisterstücke ihrer Kollektionen, kann keine Ordnung in ihre Sachen und ihr Leben bringen und macht alle mit ihrem Tick wahnsinnig, nichts verschließen zu können. Daher eskaliert die Szene mit dem Pferd: Marie findet ihren Pass, weil sie ihre Taschen offen gelassen hat, erst kurz vor Abflug der Transportmaschine. Zu Beginn des Textes steht eine weitere dramatische Szene, der Pferde-Geschichte zeitlich nachgelagert, die uns Marie erklären soll: Ihr Liebhaber steht aus dem Bett auf und fällt tot um. Der Erzähler, der seit seiner Rückkehr aus Tokio drei Straßen weiter wohnt und dort auch gerade Liebe macht, mit einer anderen Marie pikanterweise, eilt herbei. Im dritten Teil des Romanes wird aus der Sicht Maries, die den Sommer im Haus ihres verstorbenen Vaters (siehe „Fliehen“) auf Elba verbringt, die Ankunft des Erzählers geschildert, den sie um sein Kommen gebeten hatte. In einer der ersten Nächte bricht auf einem nahe gelegenen Reiterhof, in dem die Pferde des Vaters in Pension gegeben wurden, ein Feuer aus, bei dem das Gestüt zerstört und mehrere Pferde getötet werden. Am Schluss scheinen die beiden wieder ein Paar zu sein. Ausgezeichnet mit dem Prix Décembre 2009 und nominiert für die Shortlist des Prix Goncourt 2009.

Didaktische Hinweise

Alle Teile der Romantrilogie von Toussaint sind problemlos auch im Original zu lesen. Das Pferde-/Hengstmotiv wäre eine Untersuchung wert, Schülern und Schülerinnen gelingt vielleicht in naiver Herangehensweise eine kohärente Deutung.

Alle hier rezensierten Werke von Jean-Philippe Toussaint

Gattung

  • Romane

Eignung

als Klassenlektüre geeignet

Altersempfehlung

Jgst. 11 bis 13

Fächer

  • Deutsch
  • Französisch

FÜZ

  • Kulturelle Bildung

Erscheinungsjahr

2010

ISBN

9783627001674

Umfang

190 Seiten

Medien

  • Buch