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Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

Besprechung

Ein sprachlich und erzählerisch großartiger Roman über sieben Personen. eine Familie, vier Generationen, geprägt von der Geschichte des Ostblocks, der DDR und dem Fall der Berliner Mauer

Die Geschichte spielt zum großen Teil vor dem Hintergrund des sich auflösenden Ostblocks in Banat, Rumänien, die Kapitel werden aus verschiedenen Perspektiven von Familienmitgliedern der unterschiedlichen Generationen erzählt, beginnend mit Florentine und Hannes, einem Pfarrersehepaar, das in einem kleinen Dorf lebt.

In tiefem Schneetreiben bringt ein Kutscher die schwangere Florentine zum Zug, mit dem sie in die Stadt ins Krankenhaus fahren will. Hannes, Florentines Mann, bleibt im Dorf, er wird am Abend den Weihnachtsgottesdienst halten. Das ereignet sich nicht im 19., sondern in den 70ger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Rumänien. Die Szene könnte idyllisch sein, wäre nicht die Angst der jungen Frau, ihr Kind zu verlieren und nach der Ankunft der Schrecken über die Zustände in der Klinik. Doch alle geht gut und drei Monate später kommt der kleine Samuel auf die Welt, der in dem Sprachmischmasch des Banat zwischen Deutsch, Rumänisch und Slowakisch lange braucht, bis er zu sprechen beginnt. Um ihn kreist die Erzählung. „Zapada“, das rumänische Wort für Schnee ist sein erstes Wort und spätestens da versteht man den Titel des ersten Kapitels, in dem auch Bene und Lothar, die zwei junge Lehrer aus Ostdeutschland und ein Paar sind, auftauchen und die Gastfreundschaft des Pfarrhauses genießen, bevor sie ans Schwarze Meer weiterreisen.

Dass der Besuch dieser zwei Reisenden aus der DDR später nochmals an Bedeutung gewinnt und sich Lebenswege erneut kreuzen, ahnen die Leser/-innen höchstens. Sohn Samuel wächst in Banat auf und flieht mit einer Propellermaschine zusammen mit seinem Freund Oz nach Deutschland, kehrt aber am Ende des Romans – die rumänische Revolution 1989 und der Sturz des Diktators Ceauescu – in seine Heimat zurück, wo er seine Tochter, von deren Existenz er nichts wusste, kennenlernt. Was vielleicht schicksalshaft und konstruiert klingt, ist fein und subtil zusammengefügt und wirkt zufällig und doch bewusst, aber niemals zu gewollt.

Wirkt die Erzählhaltung manchmal nüchtern und distanziert, so wechselt doch der Blick immer wieder ins Innere der Figuren und weist von da auf Lebenszusammenhänge hin. Historische Hintergründe werden meist nur angedeutet. Die Autorin stammt selbst aus Siebenbürgen und ihre Liebe zur Landschaft der Karpaten und des Banats und zur rumänischen Sprache ist spürbar. 

Didaktische Hinweise

Ab der 10. Klasse kann dieser Roman gelesen werden und gerade in der Q-Phase als zeitgenössischer Roman, auch als Klassenlektüre, gewählt werden. Die Handlung und Themen wie Freundschaft, Familie, Verzicht, Liebe sind eng verwoben mit deutscher und europäischer Geschichte, Flucht, Bespitzelung, Verantwortung des Einzelnen in einem totalitären Regime und politischem Gehorsam (in einem System, das auf der Ideologie basiert, dass „die Partei [...] keine Fehler [macht]”). So bieten sich zahlreiche Ansätze für eine Auseinandersetzung mit dem Roman, im Deutsch- wie auch im Geschichtsunterricht.

„Die Mauer fiel. [...] Der Eiserne Vorhang, heißt es, war zerbrochen und Bene dachte darüber nach, wie selbstverständlich man in Metaphern lebte. Auch etwas, das über Jahrzehnte das Leben unzähliger Menschen bestimmt hatte, konnte fallen, konnte zerbrechen, und er fragte sich, ob Metaphern Erfahrungen verbergen oder zum Vorschein bringen. Wenn man anders darüber sprach, würde man es dann auch anders erleben?” (S. 163)

Der Roman findet sich auf den Nominierungslisten für den Deutschen Buchpreis, den Bayerischen Buchpreis sowie den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2020.

Ein großartiger Roman: sprachlich und erzählerisch wunderschön, geht es um eine Familie, deren Schicksal mit den politischen Geschehnissen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts verwoben ist.

„»Welche Farbe hat die Traurigkeit?«, hatte Samuel gefragt, [...].

»Nachtblau«

»Wo fängt sie an?«

»Hier«, sagt Live und legte die Hände auf die Brust." (S. 198)

Gattung

  • Romane

Eignung

als Klassenlektüre geeignet und zum Vorlesen

Altersempfehlung

Jgst. 10 bis 13

Fächer

  • Deutsch
  • Geschichte

FÜZ

  • Interkulturelle Bildung
  • Kulturelle Bildung
  • Politische Bildung
  • Sprachliche Bildung

Erscheinungsjahr

2020

ISBN

9783608983265

Umfang

213 Seiten

Medien

  • Buch