Patrick Modiano: Gräser der Nacht

Besprechung

Die Beschwörung der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart ist das Thema dieses Buches. Für den Erzähler Jean nämlich ist die Vergangenheit fast gegenwärtiger als das Heute bei seiner Suche nach Dannie, die er in den Sechzigern kannte. Mit ihren rätselhaften Freunden und wechselnden Wohnungen ebenso wie mit ihrem Verschwinden hat er sich ohne viel nachzufragen abgefunden. Seine Wurzellosigkeit und Haltlosigkeit spielen bei der eigenartig vagen Beziehung zu Dannie keine Rolle. Erst viele Jahre später stellt er sich, auch durch das seltsame Treffen mit einem Kriminalbeamten, allerhand verstörenden Einsichten, vor allem der, dass Dannie wohl tatsächlich etwas Schlimmes getan hat. Der Zusammenhang mit der Affäre um die Entführung und Ermordung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barka wird im Nachwort explizit erwähnt. Die Zeit vergeht und ist doch nicht vergangen, auch wenn sich Paris seit den sechziger Jahren massiv verändert hat und manche Straßen überbaut oder zugebaut wurden. Dennoch ist die Vergangenheit gegenwärtig, der literarisch versierte Ich-Erzähler bevölkert die Stadt mit den Geistern verstorbener Dichterlieben oder historischer Gestalten; auch die langen Schatten der Besatzungszeit sindnoch lebendig. Und immer wieder vermischen sich die Zeiten - und über dem ganzen Buch liegt eine große Melancholie. (Aus dem Französischen von Elisabeth Edl)