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Clarice Lispector: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau

Besprechung

Band I der gesammelten Kurzgeschichten der brasilianischen Autorin In Südamerika ist die in der Ukraine geborene und in Rio de Janeiro 1977 am Tag vor ihrem 57. Geburtstag gestorbene Autorin seit dem Erscheinen ihres ersten Romans 1943 und besonders seit ihrer Rückkehr aus dem Ausland 1959 bekannt und verehrt. Nun erscheinen ihre Kurzgeschichten in zwei Bänden (Band II im Herbst 2020) von Luis Ruby aus dem brasilianischen Portugiesisch sehr gut lesbar ins Deutsche übersetzt. Herausgeber ist der Literaturkritiker Benjamin Moser, der eine Biographie Clarice Lispectors (Why this World, 2014) geschrieben hat. In „Der Triumph“, der ersten Geschichte des ersten Bandes, erwacht die Ich-Erzählerin Luisa am Morgen nach einem Streit mit Jorge, ihrem Mann oder Liebhaber. Er ist weg, sie kramt in seinen Sachen, in der vagen Hoffnung, er habe ihr einen Abschiedsbrief hinterlassen, und entdeckt eine Notiz, in der er seine Mittelmäßigkeit beklagt. Zuerst weint sie über seine Schwäche, dann erwacht ihr Geist und ihr Körper wie zu neuem Leben und der letzte Satz lautet: „Er würde zurückkommen, denn sie war die Stärkere.“ In „Obsession“ ist Cristina die junge Frau, die aus ihrer eintönigen Beziehung zu Jaime in eine leidenschaftliche Liebe zu Daniel flüchtet, die nach zwei Jahren zur Routine gewordenen Zusammenlebens damit endet, dass sie ihn verlässt und zumindest äußerlich zu Jaime zurückkehrt, „Nur eben allein. Für immer allein.“ Nicht alle Stimmen erzählen in der ersten Person, doch sind es sehr persönliche, intime, manchmal phantastische oder religiöse Elemente, die einen glauben lassen, der Schreiberin nahe zu sein. Oft geht es um Tiere „als eines der Dinge, die Gott noch sehr nahe sind“ (aus: „Nutzlose Erklärung“ im Anhang, S. 404). Von manchen Figuren wie dem Mädchen in „Kostbarkeit“, das ihr „letztlich unsympathisch“ (S. 403) ist, distanziert sie sich auch. Von „verstörend“ bis „depressiv und unverständlich“ lauten die Urteile mancher Kritiker. Die Texte sind teilweise uneindeutig, verschließen sich zum Teil einer Deutung scheinbar ganz, lassen dafür Raum zum Nachdenken: „Ich mag auf eine liebevolle Weise das Unabgeschlossene, das Schiefe...“ (S. 412), schreibt Clarice Lispector. Einige ihrer Werke wurden in den 80er Jahren ins Deutsche übersetzt, seit 2013 werden, in der Folge der Forschungen des amerikanischen Autors Benjamin Moser, Übersetzungen überarbeitet und, wie hier, Texte neu übersetzt. Clarice war die erste ihrer Familie, die portugiesisch lernte, die Eltern sprachen fast nur jiddisch.

Didaktische Hinweise

Lispector schreibt keine handlungsstarken Geschichten. Es gibt witzige und ironische Passagen und Erzählungen, wie die von der Geburtstagsfeier einer alten Frau, die so wenig Interesse an ihrer Familie hat wie diese an ihr oder die beiden Hühnergeschichten. Einige Texte geben viel Spielraum zur Analyse, auch zum identifikatorischen Lesen für junge Leser, nicht nur Leserinnen, wobei über die Rolle der Frauen gegenüber den jeweiligen Männerfiguren und in der Gesellschaft überhaupt zu sprechen wäre. Die Geschichte der Familie Lispector hilft das Werk zu erklären: der Vater, Mathematiker, der sich aber, weil nur das Juden erlaubt war, als Händler durchschlagen musste, um seine drei Töchter durchzubringen, die Mutter, die russische Soldaten vergewaltigten und mit Syphilis ansteckten, durch deren Folgen sie gelähmt wurde, die Flucht 1922 vor den Judenpogromen mit der zweijährigen Clarice unter schlimmsten Bedingungen, die diplomatische Karriere des Ehemanns, die Scheidung 1959 nach 16 Ehejahren, die schwere Brandverletzung der rechten Hand und der frühe Tod, den sie häufig voraussieht.

Gattung

  • Kurzprosa, Erzählungen, Textsammlungen, Tagebücher

Eignung

in Auszügen geeignet und zum Vorlesen

Altersempfehlung

Jgst. 10 bis 13

Fächer

  • Deutsch
  • Ethik/Religionslehre (Evang. Religionslehre

FÜZ

  • Werteerziehung

Erscheinungsjahr

2019

ISBN

9783328600947

Umfang

414 Seiten

Medien

  • Buch
  • E-Book